Ist eine Selbstreinigung nach der Auswahl des günstigsten Angebots zulässig?
Da es im Gesetz keinen Hinweis auf den endgültigen Zeitpunkt gibt, zu dem Auftragnehmer verpflichtet sind, ihre Zuverlässigkeit zu belegen und dem öffentlichen Auftraggeber entsprechende Nachweise vorzulegen, hat die Nationale Berufungskammer (poln. Krajowa Izba Odwolawcza, kurz KIO) eine einheitliche Rechtsprechung zu diesem Thema entwickelt.
Das Selbstbereinigungsverfahren nach dem polnischen Vergabegesetz (poln. Prawo Zamowien Publicznych, kurz PZP) ermöglicht es Auftragnehmern trotz des Vorliegens von Ausschlussgründen den Nachweis geeigneter Korrekturmaßnahmen zu erbringen, um ihre Zuverlässigkeit zu beweisen und den Ausschluss zu vermeiden. Die Nationale Berufungskammer hat eine einheitliche Rechtsprechung entwickelt, wann eine Selbstreinigung durchgeführt werden kann. Diese Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 26. August 2021, Az. KIO 2348/21) deutet darauf hin, dass ein Unternehmer spätestens bis zum Zeitpunkt seines Ausschlusses aus dem Verfahren eine Selbstreinigung durchführen darf – eine zeitliche Zäsur fehlt.
Selbstreinigung nach Angebotsauswahl?
Die Selbstreinigung nach der Auswahl des günstigsten Angebots im Verfahren kann jedoch problematisch sein, d. h. unter anderem in einer Situation, in der der öffentliche Auftraggeber, ohne zu wissen, dass ein bestimmter Auftragnehmer ausgeschlossen wird, dessen Angebot als das günstigste auswählt. Es ist nicht schwer vorzustellen, dass ein Auftragnehmer dem Auftraggeber (zusammen mit dem Angebot) unwahre Informationen vorlegt und der irregeführte Auftraggeber das Angebot als das vorteilhafteste auswählt. Nach der Auswahl des günstigsten Angebots legt der Auftragnehmer, der sich seiner persönlichen Situation bewusst ist, einen Nachweis über die vorgenommene Selbstreinigung vor.
Eine sachgerechte Auslegung der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe (die „Klassische Vergaberichtlinie“), des Vergaberechts sowie der jüngsten Rechtsprechung der Nationalen Berufungskammer lässt die oben genannte Lösung grundsätzlich zu.
Selbstreinigung im polnischen Vergabegesetz
Zunächst sei auf den Wortlaut von Art. 110 Abs. 1 und 2 des polnischen Vergabegesetzes (VergG) hingewiesen, mit dem das Institut der Selbstreinigung des Auftragnehmers in das polnische Recht eingeführt wird. Nach dem Hinweis auf die Möglichkeit des Ausschlusses von Auftragnehmern bis zum Abschluss des Verfahrens (Art. 110 Abs. 1 VergG) hat der polnische Gesetzgeber gleich im Anschluss an diese Bestimmung (Art. 110 Abs. 2 VergG) hinzugefügt, dass ein Auftragnehmer unter bestimmten Umständen (Ausschlussgründen) nicht ausgeschlossen werden kann, wenn er die entsprechenden Maßnahmen ergreift und seine Zuverlässigkeit nachweist. Allerdings fehlt in dieser Bestimmung, die zweifellos mit Art. 110 Abs. 1 VErgG korreliert und vereinbar ist, eine zeitliche Begrenzung, wann das Selbstreinigungsverfahren angewendet werden kann. Dies bedeutet, dass ein Unternehmer immer dann, wenn Ausschlussgründe vorliegen, das Recht hat, ein Selbstbereinigungsverfahren durchzuführen.
Gemäß Art. 254 des polnischen Vergabegesetzes endet das Verfahren jedoch an dem Tag, an dem der öffentliche Auftrag unterzeichnet wird – oder alternativ an dem Tag, an dem das Verfahren aufgehoben wird.
Die Auswahl des günstigsten Angebots im Verfahren stellt keine Handlung dar, die im Hinblick auf das Ende des Verfahrens von Bedeutung ist. Sie bringt das Verfahren zwar näher an den Vertragsabschluss heran, hat aber keinen Einfluss auf das Ende des Verfahrens im engeren Sinne. Nach dem Datum der Angebotsauswahl muss der öffentliche Auftraggeber Maßnahmen ergreifen, um den Vertrag zu schließen – auch wenn noch andere Maßnahmen zur Auwahl stehen, die im Laufe des Verfahrens laut Vergaberecht erforderlich sind.
Wenn also der öffentliche Auftraggeber den Auftragnehmer nach der Auswahl des günstigsten Angebots ausschließen kann (indem er diese Maßnahme zunächst aufhebt), ist es vernünftig, dem Auftragnehmer die Möglichkeit zu geben, eine Selbstreinigung durchzuführen, um den Ausschluss zu vermeiden.
Selbstreinigung nach EU-Recht
Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus der klassischen Vergaberichtlinie ziehen. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf Art. 57 Abs. 5 und 6 der Richtlinie zu verweisen, die inhaltlich den polnischen Regelungen entsprechen. Aus ihnen geht wörtlich hervor, dass der öffentliche Auftraggeber einen Auftragnehmer in jeder Phase des Verfahrens ausschließen kann. Absatz 6 des genannten Artikels enthält dagegen das Recht des Auftragnehmers, die Selbstreinigung nachzuweisen, was sich eindeutig auf die gesamte Dauer des Verfahrens beziehen sollte (da keine zeitliche Begrenzung vorgesehen ist).
Die Rechtsvorschriften der EU und des Vergabegesetzes sind koordiniert und miteinander vereinbar. Sowohl im EU-Gemeinschaftsrecht als auch im öffentlichen Vergaberecht ist die Möglichkeit vorgesehen, einen Auftragnehmer in jedem Stadium des Verfahrens auszuschließen, und es gibt ein Element, mit dem ein solches Vorgehen vermieden werden kann. Das maßgebliche Ereignis, das einen Selbstausschluss zweifelsfrei verhindert, ist der Abschluss des Verfahrens, d. h. die Unterzeichnung des Vertrags, und nicht die Auswahl des günstigsten Angebots (die nur eine von vielen Maßnahmen im Verfahren darstellt).
Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union („EuGH“) selbst (z. B. in seinem Urteil vom 14. Januar 2021 in der Rechtssache C-387/19) hat in der Zwischenzeit wiederholt betont, dass aus keiner Quelle des EU-Rechts hervorgeht, wie oder in welchem Stadium des Vergabeverfahrens der Nachweis von Korrekturmaßnahmen erbracht werden kann. Es ist daher davon auszugehen, dass bereits der Akt der Auswahl des günstigsten Angebots in den Begriff der „Dauer des Verfahrens“ einbezogen werden sollte.
Rechtsprechung der Nationalen Berufungskammer und des Amtsgerichts Warschau
In der Rechtsprechung der Berufungskammer sowie des Vergabegerichts (Bezirksgericht Warschau) wurde der für die Selbstreinigung geeignete Zeitpunkt mehrfach analysiert. Es gibt keine Zweifel, dass die Selbstreinigung während des gesamten Verfahrens (bis zur Vertragsunterzeichnung) zulässig ist und der Grenzpunkt für die Möglichkeit der Einleitung des fraglichen Verfahrens nur die Entscheidung ist, den Auftragnehmer vom Verfahren auszuschließen (eine solche Auffassung wurde beispielsweise im Urteil des Bezirksgerichts in Warschau vom 18. Januar 2019, Az. XXIII Ga 1811/18, vertreten).
In einem der jüngsten Urteile der Nationalen Berufungskammer wird auch anerkannt, dass der Auftragnehmer, dessen Angebot als das günstigste ausgewählt wurde, das Recht hat, Unterlagen vorzulegen, die als selbstreinigend gelten. Gleichzeitig hat der Auftraggeber das Recht, die betreffende Dokumentation zu bewerten (vgl. Urteil der Nationalen Berufungskammer vom 19. Januar 2024, Aktenzeichen KIO 3887/23).
Die obige Schlussfolgerung wurde gerade aufgrund der Nichtberücksichtigung des „letzten Moments“ für die Selbstreinigung im Vergabegesetz sowie der ständigen Rechtsprechung sowohl der NationalenBerufungskammer als auch des EuGH in Bezug auf die Möglichkeit, einen Auftragnehmer während der gesamten Dauer des Verfahrens auszuschließen, gezogen.
Meinung des Autors
Auftragnehmern die Möglichkeit zu verwehren, nach der Auswahl des günstigsten Angebots eine Selbstreinigung vorzunehmen, stünde nicht nur im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung der Nationalen Berufungskammer, sondern würde auch der funktionalen Auslegung der Artikel 110 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über das öffentliche Auftragswesen zuwiderlaufen.
Ebenso würde dies zur absurden Situation führen, in der ehrliche und um volle Transparenz bemühte Auftragnehmer (die z. B. aufgrund eines unbeabsichtigten Fehlers die Vergabestelle in ihrem Angebot zunächst in die Irre geführt haben) nicht in der Lage wären, ihr eigenes Handeln wirksam zu korrigieren, indem sie ihren Status als Auftragnehmer im Verfahren nach der Auswahl des günstigsten Angebots behalten.
Eine gegenteilige Auffassung würde zudem zur Bevorzugung von Verhaltensweisen von Auftragnehmern führen, die eigentlich stigmatisiert werden sollten (Verschweigen oder Vertuschen der tatsächlichen persönlichen Situation, nachdem ein Auftragnehmer „selbst entdeckt“ hat, dass er dem Ausschluss unterliegt).
Andererseits steht die Selbstreinigung eines Auftragnehmers nach Ablauf der Frist für die Einreichung von Angeboten im Einklang mit den übergeordneten Grundsätzen des Vergaberechts (Grundsatz des fairen Wettbewerbs, Gleichbehandlung der Auftragnehmer) und belohnt ehrliche Auftragnehmer, die dem öffentlichen Auftraggeber eine Reihe von Informationen zur Verfügung stellen, die das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können. Ein solches Verhalten – das über jeden Zweifel erhaben ist – sollte belohnt werden (ordnungsgemäße Bewertung der Selbstreinigung, die Auswirkungen auf die Situation eines bestimmten Auftragnehmers im Verfahren haben kann).
Autor: Wiktor Kulig, Vergaberechtsexperte der JDP
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