Abwehr mehrfach berechneter Vertragsstrafen für ein und dieselbe Vertragsverletzung
Im Geschäftsleben kann es vorkommen, dass ein Gläubiger für ein und dieselbe Vertragsverletzung mehrfach Vertragsstrafen berechnet hat. Denn für den Gläubiger scheint es manchmal profitabler zu sein, den Zustand der Vertragsverletzung zu verlängern, um eine höhere Vertragsstrafe verlangen zu können. In solchen Fällen entstehen Zweifel, ob der Gläubiger dies tun darf und wie sich der Schuldner dagegen wehren kann, dass der Gläubiger mit seinen Verstößen und den daraus resultierenden Vertragsstrafen Geld verdient.
Mitwirkungspflicht – was ist das und für wen gilt sie?
Ein Vertrag ist eine rechtliche Bindung zwischen einem Gläubiger und einem Schuldner. Wenn man über die Erfüllung eines Vertrags nachdenkt, konzentrieren sich viele Menschen auf die Pflichten des Schuldners als der Partei, die den Vertragsgegenstand aktiv erfüllt. Es ist jedoch zu bedenken, dass im Rahmen eines Vertrags nicht nur der Schuldner, sondern auch der Gläubiger Pflichten haben kann. Die Mitwirkungspflicht, um die es in dieser Publikation geht, ist keine Ausnahme von dieser Regel – die Erfüllung der Mitwirkungspflicht liegt nicht nur auf Seiten desjenigen, der das Leistungsmerkmal des betreffenden Vertrags erfüllt (z. B. der Auftragnehmer, der bestimmte Bauarbeiten durchführt), sondern auch auf Seiten des Gläubigers (z. B. der Investor/Auftraggeber).
Nach Art. 354 des polnischen Zivilgesetzbuches (ZGB) hat der Schuldner die Verbindlichkeit entsprechend ihrem Inhalt und in einer Weise zu erfüllen, die ihrem sozialen und wirtschaftlichen Zweck und den Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens entspricht, und – wenn es in dieser Hinsicht festgelegte Gepflogenheiten gibt – auch in einer Weise, die diesen Gepflogenheiten entspricht. Der Gläubiger sollte bei der Erfüllung der Verbindlichkeit in gleicher Weise mitwirken.
In Art. 354 § 2 des ZGB hat der Gesetzgeber daher eine allgemeine Pflicht des Gläubigers zur Zusammenarbeit mit dem Schuldner bei der Erfüllung der Verbindlichkeit eingeführt.
Wie soll der Gläubiger an der Vertragserfüllung mitwirken?
Art und Umfang der Pflicht des Gläubigers (z. B. des Investors/Auftraggebers), mit dem Schuldner bei der Vertragserfüllung zusammenzuarbeiten, sind in der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft ausgiebig erörtert worden und lassen sich auf zwei Hauptauffassungen reduzieren:
- Ansicht 1: Die Mitwirkungspflicht des Gläubigers ist ausschließlich negativ, d. h. sie besteht darin, den Schuldner bei der Erfüllung der Verbindlichkeit nicht zu behindern, während vom Gläubiger ein positives Handeln erwartet werden kann, wenn es sich aus der Art der Verbindlichkeit oder aus dem Vertrag ergibt
- Ansicht 2: Die Pflicht des Gläubigers, mit dem Schuldner zusammenzuarbeiten, umfasst die Pflicht, aktiv an der Erfüllung der Verbindlichkeit mitzuwirken.
Ansicht 2 – die auch von den Autoren dieser Publikation vertreten wird – erweitert die Mitwirkungspflicht des Gläubigers über die allein durch den Vertragsinhalt gesetzten Grenzen hinaus. Es wird darauf hingewiesen, dass die Pflicht des Gläubigers zur Zusammenarbeit mit dem Schuldner auch als Loyalitätspflicht gegenüber der Gegenpartei zu verstehen ist, d. h. dass er alles zu unterlassen hat, was einen Verstoß gegen die Grundsätze der Redlichkeit und Fairness in den gegenseitigen Beziehungen darstellen würde.
Besteht eine unverzügliche Informationspflicht des Gläubigers?
Die Frage, ist daher, ob sich die Pflicht des Gläubigers zur Zusammenarbeit mit dem Schuldner auch darauf erstreckt, die Verbindlichkeiten des Schuldners aus einem bestimmten Vertragsverhältnis zu minimieren. Mit anderen Worten, sollte der Gläubiger (z. B. der Investor/Auftraggeber), falls Gründe für die Auferlegung von Vertragsstrafen vorliegen, Maßnahmen ergreifen, um den potenziellen Wert des durch den Schuldner zu zahlenden Betrages zu verringern? Dies ist umso wichtiger, als dass die Verlängerung der Vertragsstrafenfrist an die Dauer des Zeitraums geknüpft sein muss, in dem das Interesse des Gläubigers verletzt wird (z. B. der Investor muss eine Anlage mit nicht behobenen Sachmängeln nutzen).
Informationen über Vertragsstrafen in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe für die Nichtbehebung von Mängeln innerhalb der Gewährleistungsfrist oder für die Nichtbenachrichtigung von Unterauftragnehmern sind allgemein bekannt. Anstatt das Problem (den Zustand der Vertragsverletzung) zu lösen, ziehen es die öffentlichen Auftraggeber offenbar vor, in der bestehenden Situation zu verharren und Vertragsstrafen für nachfolgende Zeiträume zu verlangen. Solche Situationen können dazu führen, dass sich die öffentlichen Auftraggeber an den Vertragsstrafen bereichern, die den Auftragnehmern für oft geringfügige Verstöße in Rechnung gestellt werden.
Was sagen die gesetzlichen Vorschriften?
Die Auslegung der dem Gläubiger nach Art. 354 § 2 ZGB obliegenden Pflichten scheint es zu ermöglichen, dem geschädigten Gläubiger die Pflicht aufzuerlegen, den Umfang des dem Schuldner anzulastenden Schadens zu verhindern oder zu minimieren. Hat sich nämlich infolge der Verletzung der Mitwirkungspflicht des Gläubigers der den Schuldner belastende Schaden vergrößert und besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des Gläubigers und der Vergrößerung des Schadens, so ist davon auszugehen, dass der geschädigte Gläubiger zur Entstehung oder Vergrößerung des Schadens beigetragen hat.
Was sagt die Rechtsprechung?
Dies wird durch die Rechtsprechung bestätigt. Das Berufungsgericht in Warschau hat darauf hingewiesen: „Die Mitwirkung des Gläubigers in diesen Fällen sollte gemäß Art. 354 § 2 des ZGB auch darin bestehen, den Kläger unverzüglich über die festgestellten Unregelmäßigkeiten zu informieren. Ob es für den Beklagten wirtschaftlich gerechtfertigt wäre, eine solche Information zu erteilen, wenn die Erhebung einer Vertragsstrafe dem Beklagten ein Vielfaches an Einnahmen einbringt, als wenn er gemäß Art. 354 § 2 des ZGB an der Erfüllung des Vertrages mitwirkt, ist hier eine andere Frage.„.
Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof in einem seiner Urteile bestätigt, dass ein Element der Mitwirkungspflicht des Gläubigers die Pflicht zur Schadensverhütung und -minderung ist. Dabei handelt es sich im Übrigen um ein dem internationalen Recht bereits bekanntes Konzept – das Wiener Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf sieht eine Verpflichtung zur Minimierung des erlittenen Schadens („Mitigation“) vor, die sich in der Verpflichtung der durch den Vertragsbruch geschädigten Partei manifestiert, Maßnahmen zu ergreifen, „die unter den gegebenen Umständen angemessen sind, um den durch den Vertragsbruch verursachten Schaden, einschließlich des entgangenen Gewinns, zu begrenzen„.
Die obigen Ausführungen geben eine eindeutige Antwort auf die oben gestellte Frage: Der Gläubiger (Auftraggeber/Investor), der seiner Mitwirkungspflicht bei der Erfüllung der Verpflichtung nachkommt, sollte beim Vorliegen von Gründen für die Auferlegung von Vertragsstrafen gegen den Auftragnehmer diese unverzüglich nach Kenntnisnahme geltend machen. Auf diese Weise kann der Schuldner den Zustand der Vertragsverletzung unverzüglich beheben und die Verhängung weiterer Vertragsstrafen vermeiden. Schließlich gehört es gerade auch zur Zusammenarbeit der Parteien, die andere Partei auf mögliche Versäumnisse hinzuweisen, um ihr eine korrekte Vertragserfüllung zu ermöglichen und nicht nur stillschweigend Ansprüche zu sammeln.
Wird die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Gläubigers bei der Bemessung von Vertragsstrafen berücksichtigt?
Die Frage der mangelnden Kooperation des Gläubigers wird auch in der Phase der Entscheidung über eine mögliche Minderung der Vertragsstrafe berücksichtigt. Die Gerichte gehen nämlich davon aus, dass der Gläubiger, wenn der Verstoß akut wäre, den Schuldner sicherlich sofort auf die Notwendigkeit einer Verbesserung hingewiesen hätte. Ist dies nicht der Fall ist davon auszugehen, dass der Verstoß für den Gläubiger praktisch unerheblich war und die Vertragsstrafe drastisch reduziert werden kann.
Das Berufungsgericht Warschau hat die Strafe um 95 % herabgesetzt und dabei Folgendes festgestellt: „Die Staatskasse, vertreten durch (…), hat nicht dargelegt, dass die Verspätung der Beklagten mit der Notwendigkeit eines Handelns des Vertragspartners verbunden war oder dessen Arbeit gestört hat. Im Gegenteil, nach den Grundsätzen der Logik hätte die Klägerin, wenn eine solche Situation eingetreten wäre, den Beklagten sicherlich kurz nach Ablauf der Frist für die Vorlage der Berichte durch die Beklagten signalisiert, dass die vertraglich vorgesehene Verpflichtung nicht erfüllt wurde. In der Zwischenzeit blieben die Beklagten untätig und tolerierten das Ausbleiben der Berichte über mehrere Monate hinweg. Die Beklagten sind ihrer Verpflichtung nachgekommen, nachdem die Klägerin zum ersten Mal signalisiert hatte, dass sie ihre Leistung nicht fristgerecht erbringen würde. (Urteil des Berufungsgerichts in Warschau vom 19.04.2018, Az. I ACa 70/17).
Verteidigungsmöglichkeiten des Schuldners vor kumulierten Forderungen
Die oben erwähnten Grundsätze der Loyalität und Fairness sowie die Verpflichtung, den Umfang der Verpflichtung des Schuldners zur Zahlung von Vertragsstrafen so gering wie möglich zu halten, führen zu der Überzeugung, dass der Gläubiger nicht berechtigt ist, Ansprüche gegen den Schuldner zu kumulieren und diese erst mehrere Jahre später, z. B. nach Beendigung des Vertrags oder Rücktritt vom Vertrag, geltend zu machen. Dies ist ein Argument, das dem Schuldner die Möglichkeit gibt, sich gegen diese Forderung zu verteidigen – sowohl im vorgerichtlichen Stadium als auch bei der Entscheidung über eine mögliche Herabsetzung der Vertragsstrafen.
Wenn sich Ihr Unternehmen gegen Vertragsstrafen wehrt, die wiederholt für denselben Verstoß berechnet wurden, oder sich bereits in einem Rechtsstreit über eine solche Forderung befindet, erörtern unsere Experten gerne mögliche Lösungen. Das Litigation Team von JDP verfügt über umfangreiche Erfahrung in dieser Art von Rechtsstreitigkeiten.
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