Unerwartete Wiederherstellung der Aufrechnung von Vertragsstrafen bei öffentlichen Aufträgen
Zum 24. August 2022 wurde ohne jegliche Legisvakanz Art. 15r1 des sog. Anti-Krisen-Schutzschildes vom 2. März 2020 (Gesetz über besondere Lösungen zur Vorbeugung, Entgegenwirken und Bekämpfung von COVID-19 oder anderen ansteckenden Krankheiten sowie durch sie hervorgerufene Krisensituationen, im Folgenden „Gesetz“) aufgehoben.
Verbot der Geltendmachung von Vertragsstrafen – Art. 15r1
Art. 15r1 des Gesetzes verbot Auftraggebern, im Rahmen öffentlicher Aufträge
- Vertragsstrafen, die für den Fall der Nicht- oder Schlechterfüllung des Vertrages vorgesehen waren, mit der Vergütung von Auftragnehmern oder anderen Forderungen aufzurechnen
- sowie diese im Rahmen von gewährten Sicherheiten geltend zu machen,
sofern das anspruchsauslösende Ereignis während der Pandemie aufgetreten war.
Sinn des Verbots war es, Auftragnehmern in Zeiten schlechter wirtschaftlicher Umstände, die insbesondere durch die Pandemie verursacht wurden, entgegenzukommen. Die Geltendmachung von Vertragsstrafen in der Krise durch Auftraggeber hätte für viele den Verlust ihrer Liquidität bedeutet und es ihnen unmöglich gemacht, neue Aufträge zu gewinnen.
Der Geltungszeitraum von Art. 15r1 – oder die Unvorhersehbarkeit des polnischen Gesetzgebers
Laut Art. 15r1 Abs. 1 des Gesetzes sollte dieses Verbot während des (am 20. März 2020 in Polen eingeführten) Epidemiezustandes, dem Zustand der epidemischen Gefahr sowie 90 Tage nach Aufhebung des zuletzt ausgerufenen Zustands gelten.
Am 16. Mai 2022 wurde der Epidemiezustand in Polen nach zwei Jahren aufgehoben, der Zustand der epidemischen Gefahr gilt jedoch bis zum heutigen Tag weiter. Die plötzliche Aufhebung des Verbots ist daher im Hinblick auf ihre Unvorhersehbarkeit sehr kritisch zu beurteilen. Als Begründung der Aufhebung wird angeführt, dass das Verbot zu einer Kumulierung von Ansprüchen aus Vertragsstrafen führen würde und somit sowohl für Auftragnehmer als auch Auftraggeber ungünstig sei. Zudem soll die Aufhebung durch Auftraggeber, Garantiegeber und Banken forciert worden sein.
Aufhebung von Art. 15r1 – Zeitfenster für die Geltendmachung von Ansprüchen
Der Gesetzgeber hat die Befriedigung von Ansprüchen durch Auftraggeber in mehrere Etappen unterteilt, je nachdem, wann das anspruchsbegründende Ereignis (d.h. der Umstand, der die Geltendmachung der Vertragsstrafe begründet) eingetreten ist. So sollen sich Unternehmer auf die Geltendmachung von Vertragsstrafen vorbereiten können, eine Kumulation von Auszahlungen vermieden werden.
- Ist das Ereignis bis zum 31.12.2020 eingetreten, so kann die Aufrechnung der Vertragsstrafe bzw. Inanspruchnahme von Sicherheiten frühestens am 01.10.2022 erfolgen (Variante a)
- Ist das Ereignis zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.12.2021 eingetreten, so kann die Aufrechnung bzw. Inanspruchnahme von Sicherheiten frühestens am 01.01.2023 erfolgen (Variante b)
- Ist das Ereignis zwischen dem 01.01.2022 und dem 24.08.2022 eingetreten, so kann die Aufrechnung der Vertragsstrafe bzw. Inanspruchnahme von Sicherheiten frühestens am 01.04.2023 erfolgen (Variante c)
Eine Ausnahme gilt für die Inanspruchnahme von Sicherheiten. Erlischt die jeweilige Sicherheit im Zeitraum vom Inkrafttreten des Änderungsgesetzes (24. August 2022) bis zum
- 13.10.2022 bei Variante a
- 13.01.2023 bei Variante b
- 13.04.2023 bei Variante c
so kann der Auftraggeber die Sicherheit noch vor den in den Varianten a-c oben genannten Fristabläufen in Anspruch nehmen, es sei denn, der Auftragnehmer verlängert bzw. bestellt eine neue Sicherheit 14 Tage vor ihrem Ablauf. Die Bedingungen der neuen Sicherheiten müssen durch den Auftraggeber akzeptiert werden.
Wie ist die Änderung zu bewerten? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden?
Die plötzliche Aufhebung von Artikel 15 r1 ist im Hinblick auf die Rechtssicherheit und damit Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns als negativ zu beurteilen. Auftragnehmer haben darauf vertraut, dass die Geltendmachung von Ansprüchen erst 90 Tage nach Aufhebung des Zustands einer epidemischen Gefahr stattfinden kann. Warum die Aufhebung von 15r1 Auftragnehmer begünstigen soll, ist daher nicht ersichtlich.
Es ist daher sinnvoll, gewährte Sicherheiten nun auf ihre Gültigkeit zu prüfen sowie Forderungen zu ermitteln, die eventuell durch den Auftraggeber aufgerechnet werden können. Sollte sich herausstellen, dass solche Forderungen bestehen und der Auftragnehmer diese geltend macht, ist es ratsam, eine entsprechende Argumentation vorzubereiten, die die Unbegründetheit der Forderungen darlegt bzw. die Minderung der Vertragsstrafe begründet (in einer Zahlungsklage).
In Betracht kommt auch die Einleitung gerichtlicher Schritte, um die Befriedigung eventueller Ansprüche zu verhindern (Feststellung des Nichtbestehens des Rechtsverhältnisses – nach erklärtem Rücktritt), Stellung eines Sicherungsantrags in Gestalt des Verbots, die Sicherheit in Anspruch zu nehmen bzw. die Aufrechnung vorzunehmen).